Gender Data Gap: Wie er Frauen systematisch benachteiligt – und was wir dagegen tun können

Geschrieben von Linda Rachel Sabiers

Der Gender Data Gap, was so viel bedeutet wie Geschlechter-Datenlücke, bezeichnet “fehlende oder unterrepräsentierte Datenerhebungen für ein bestimmtes Geschlecht bei Datenerhebungsverfahren, die gesellschaftlich, wirtschaftlich oder medizinisch relevant sind. (…) Üblicherweise, aber nicht immer, geht der Gender-Data-Gap zu Ungunsten von Frauen“.

So lautet die offizielle Beschreibung auf Wikipedia – ich hätte sie natürlich gerne aus dem Duden kopiert. Aber dort fehlt der Gender Data Gap als alleinstehender Begriff bisher. Es liegt also nahe, dass ich in diesem Blogbeitrag einer Welt auf den Grund gehe, die von Männern für Männer gemacht ist.

Der Gender Data Gap und ich. Oder: Wie ich an einer roten Ampel erwachte

Lautes Hupen reißt mich aus meinem Tagtraum. Ich stehe mit einem Carsharing-Golf an der Ampel einer stark befahrenen Kreuzung in Berlin-Mitte und stelle mir vor, was passieren würde, wenn mich der viel zu schnell anfahrende Sattelschlepper beim Abbiegen übersieht. Wahrscheinlich würde der Airbag aus dem Lenkrad platzen und mich an falscher Stelle abschirmen. Mein dicker Bauch würde mit voller Wucht vom Sicherheitsgurt zerdrückt werden.

Folgende zwei Faktoren spielen in diesem Tagtraum eine wichtige Rolle: Ich bin eine Frau und während ich diesen Text verfasse auch noch eine hochschwangere Frau. Also besonders sensibel für alles, was den in mir heranwachsendes Menschen gefährden könnte. Ich sehe plötzlich Gefahren, für die ich vorher fast blind war. Daher reißt mich das Hupen nicht nur aus meinen Gedanken, sondern auch aus meiner Naivität einer Welt gegenüber, deren Datenlage Zero Fucks auf meine individuellen Parameter als gibt. Parameter, die nicht männlich sind.

Zum Beispiel diese hier:

Als Frau ist mein Risiko, bei einem Unfall tödlich verletzt zu werden, 17 Prozent höher als bei Männern. Obwohl ich, repräsentativ für meine Mitfahrerinnen, in weniger Autounfälle verwickelt bin. Grund dafür ist jedoch nicht mein Fahrstil, sondern die Grundlage, auf
der Autos entwickelt und gebaut werden.

Gut zu wissen: Die international bekannte britische Journalistin, Autorin, Feministin und Aktivistin Caroline Criado-Perez hat 2020 in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert“ den Gender Data Gap ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, indem sie dieses immens wichtige Thema aus den verstaubten Schubladen der Wissenschaft für alle verständlich aufbereitet hat.

Der Gender Data Gap: Die Werkseinstellung unserer Gesellschaft ist männlich

Die Antwort nach dem „wie“ hinter dem Gender Pay Gap ist erschreckend simpel: fehlende Daten über Frauen = verzerrte wissenschaftliche Studien. Damit ist der Gender Data Gap quasi das Mutterschiff aller Lücken, die wir aus unserem Alltag kennen: Die berühmte Gehaltslücke von 21 %, die Frauen seit mehreren Jahren versuchen zu schließen, die Lücke der Frauen in politischer Partizipation und die Unterrepräsentation von Frauen in den sogenannten „MINT-Berufen“ wie Mathematik, IT, Ingenieur- und Naturwissenschaft. Das sind nur einige Bereiche – die Liste würde diesen Artikel sprengen.

Lassen wir uns das mal kurz auf der Zunge zergehen: Die Hälfte der Weltbevölkerung – knapp vier Milliarden Frauen – sind für die wissenschaftliche Datenerhebung auch heute noch so irrelevant, dass ihre körperlichen, sozialen, gesellschaftlichen und seelischen Bedürfnisse keine, bzw. kaum eine Rolle spielen.

Im Umkehrschluss ist der Mann seit jeher Modellgröße für sämtliche Entwicklungen unserer Zeit.

Der Homo Sapiens – der verstehende, weise und denkende Mensch – hat sich demnach eine Art Homo Normalis kreiert, der wie Michelangelos David ein Ebenbild des genormten Mannes ist.

Die Vereinten Nationen haben im Jahr 2006 übrigens eine Expertengruppe mit dem einprägsamen Namen „Inter-Agency and Expert Group on Gender Statistics“ gegründet. Deren Ziel ist, Institutionen,statistische Ämter und Länder über den Gender Pay Gap aufzuklären und die Datenlage zu verbessern. Wir können jedoch davon ausgehen, dass sich in den vergangenen 14 Jahren nicht ausreichend getan hat, um die klaffenden Lücken zu verkleinern, geschweige denn zu schließen. Und was auf den ersten Blick „nur“ diskriminierend wirkt, kann für Frauen fatale Folgen haben.

Der Gender Pay Gap und unser Leben: Wir wollen in den Ma(i)nstream!

Nicht jede Lücke, die der Gender Data Gap hinterlässt, hat tödliche Folgen. Manche gestalten unseren Alltag lediglich etwas komplizierter: Die Regale im Supermarkt sind zu hoch, das Smartphone für tendenziell kleinere Frauenhände zu groß, Clubtoiletten und Raumkonzepte werden nicht auf die Bedürfnisse von Frauen angepasst. Fatal wird es erst, wenn es um geschlechterspezifische Gesundheit und Sicherheit geht. Das berühmteste Beispiel sind hier die Crash-Test-Dummys, die auch Criado-Perez in ihrem Buch erwähnt:

Der durchschnittliche Dummy ist männlich, misst 1,75 Meter und wiegt 78 Kilo. Mit diesen Faktoren werden in Testlaboren tagtäglich Autos gegen die Wand gefahren, um die Sicherheit zu erhöhen und Gefahren zu minimieren. Die durchschnittliche Frau hingegen ist 1,66 Meter groß und wiegt knapp 70 Kilogramm.¹ Schon alleine diese Differenz von 9 Zentimetern und 8 Kilo kann bei Unfällen im Straßenverkehr tödliche Folgen haben. Denn wie sich Airbags öffnen, Scheiben splittern und Karosserien verbiegen, ist auf die „Formel Mann“ ausgerichtet.

Dr. Lücke, mein Name. Wie kann ich Ihnen heute nicht helfen?

Der Gender Pay Gap fühlt sich in der Medizin besonders wohl. Die Beispiele dafür sind vielfältig. Hier ist eines: Wenn bei Medikamentenstudien nur in weiblichen Testgruppen Nebenwirkungen festgestellt werden, wird dies meistens unter dem sogenannten „falschnegativen Subgruppeneffekt“ vermerkt, da die Teilnehmerinnenanzahl zu gering ist, um die Wirkung zu belegen. Wenn die exakt gleichen Symptome jedoch in der männlichen Testgruppe auftreten, dann …. ratet mal? Genau! Wird die
Studie oftmals beendet. Fun Fact: Dass Frauen überhaupt in klinischen Studien repräsentiert sein müssen, wurde in Deutschland erst 2004 mit dem 12. Änderungsantrag im Arzneimittelgesetz festgelegt.²

Zahlenmäßig erleiden übrigens mehr Männer einen Herzinfarkt als Frauen. Da die Symptome bei Frauen jedoch völlig anders sind, sterben mehr Frauen an Gefäß-, Herz- oder Kreislauferkrankungen. Grund dafür ist natürlich nicht unterlassende Hilfeleistung, sondern die Tatsache, dass medizinisches Personal ihr Wissen aus männlicher Datenlage generiert: 70 Prozent der Tierversuche werden an männlichen Tieren durchgeführt.³

¹ Quelle: Körpermaße der Bevölkerung – Statistisches Bundesamt
² Quelle: 12. Änderungsantrag des Arzneimittelgesetzes, Seite 2039, Artikel 42, Absatz 2.)
³ Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/gender-data-gap-in-der-medizin-maenner-als-standard-100.html

Wie lässt sich der Gender Pay Gap schließen?

Die Antwort auf diese Frage ist – theoretisch – genauso simpel wie die Frage Ursache: Die geschlechterspezifische Diskriminierung kann nur beseitigt werden, wenn die Unterrepräsentation von Frauen in wissenschaftlichen Daten behoben wird. Bedeutet: Um die Symptome des Gender Pay Gap zu bekämpfen, müssen wir an die Quelle. Verzerrte Algorithmen, die jahrzehntelang mit männlich basierten Daten gefüttert wurden, müssen ersetzt werden Wissenschaftliche Daten müssen nach Geschlecht aufgeschlüsselt werden, denn eine genderneutrale Sichtweise führt zu verfälschten Ergebnissen.

Mehr Frauen müssen in der Wissenschaft vertreten sein, um dem Gender Bias – den geschlechtsspezifischen Vorurteilen – entgegenzuwirken.

… zu guter Letzt

Ich möchte diesen Text nicht mit noch mehr Zahlen und Fakten, sondern mit Zitaten von zwei Frauen
abschließen. Melanne Verveer, die Direktorin am Georgetown Institut für Frauen, Frieden und
Sicherheit an der Georgetown Universität, sagt:

„Daten messen nicht nur den Fortschritt, sie inspirieren uns.“

Und Caroline Criado-Perez, die euch aus diesem Text mittlerweile bekannt ist, bringt in ihrem Buch
ganz unmissverständlich Folgendes auf den Punkt:

„Frauen sind kein verwirrender Faktor, der aus Forschungen eliminiert werden muss – fehlerhafte Daten aber schon.“

Frau mit mittellangen dunklen Haaren die lächelt mit grüner Bluse Foto: Alexa Vachon

Unsere Gastautorin Linda Rachel Sabiers schreibt berührende Kurzgeschichten und Momentaufnahmen aus dem echten Leben. Als Inspirationsort dient ihr ihre Wahlheimat Berlin. Sie schreibt für das Stadtmagazin “Mit Vergnügen” und für die “NEON” aus der Sternfamilie.  Zwei ihrer Kurzgeschichten erschienen in den Anthologien „Schlaflos im Ellington“ des Berliner Ellington Hotels und in „Unbehauste“, ein Buchprojekt für die Flüchtlingsinitiative von Herausgeber Alexander Broicher und dem Nicolai Verlag. Ihr erreicht sie bei Instagram

Illustration von Sandra Bayer – https://sandra-bayer.de/


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